Montag, 28. November 2022

Sarah Jane – Ein New-Noir-Krimi ?

Verlag Liebeskind Buchcover

 

Die Hörspielbearbeitung basiert auf dem gleichnamigen Roman von James Sallis, der 2021 auf Deutsch erschien und nicht nur gute Kritiken erhielt. Der NDR hat im Oktober 22 diese Vorlage textgetreu auf ein zweiteiliges Hörspiel komprimiert.

 

Inhalt

 

Sarah Jane Pullman, schlicht Pretty, hat eine komplizierte, schwierige Vergangenheit. Aufgewachsen auf einer abseits gelegenen Hühnerfarm in der Mitte von no-where in den USA, ist sie früh von zu Hause geflohen und hat sich durchgeboxt. Statt in den Knast zu gehen, ging sie zur Army. Heiratete den falschen Mann, der irgendwann verschwand und sie freigab. Auf der Suche nach einem Job und einem neuen Leben landet sie auf einer kleinen Polizeistation in Farr und arbeitet fortan als Cop. Der diensthabende Sheriff Cal Philipps baut sie auf und wird zunehmend zu ihrem Mentor. Als auch Cal überraschend verschwindet, wird sie Chefin des kleinen Teams. Um dem Alltagstrott zu entgehen, versucht sie, den Sheriff zu finden und wühlt plötzlich eine dunkle Vergangenheit auf, die sie an ihre eigenen Schattenseiten erinnert. Plötzlich taucht das FBI auf und ermittelt gegen Sarah Jane. Ein junger Polizist konfrontiert sie mit unklaren Ereignissen beim Verschwinden ihres Ehemannes. Unversehens wird der rentensichere Chief-Posten zu einem Feuereisen.

 

 

Das Hörspiel

 

Die Struktur ist kompliziert. Die Story wird weitgehend in der Ich-Form von Sarah Jane erzählt. Auch in den vielen Rückblenden wird deutlich, dass es im Hörspiel um das Leben von Sarah Jane geht. Ein Leben, das ein einziges Durchboxen ist und immer nur von Tag zu Tag bestimmt war. Das Hörspiel nimmt teil am Leben der Sarah Jane, aber es bleibt meist offen, was genau geschehen ist: Kindheit, Adoleszenz, erste eigene Existenz. Vermutlich führt die Schilderung dieses harten Lebens zur Einstufung als new-noir-Krimi. Aber die Szenen sind nicht explizit hart, kein Blut, kein Grauen. Diese Story erlaubt es, vielfältige hörenswerte Szenen und Spielorte aufzuführen. Der Hörer darf keinen klassischen Krimi-Plot erwarten. Tote gibt es genug, aber eben auch Unklarheiten zuhauf. Immer neue Wendungen machen das Hörspiel spannend: Gewalt in der Ehe, eiskalter Mord, Selbstmord? Man kann diese Kombinationen gekonnt nennen oder überladen. Es bleibt auch am Ende noch vieles offen.

Eine Reihe der Dialoge wird von einem Grundrauschen begleitet, als durchziehe jedes Leben ein gewisses Rauschen. Tolle Idee. Die begleitende Musik schwankt zwischen melodiösen Takten und nervigen elektronischen Tönen, die jedes Mit-und Vordenken verleiden.

Alice Dwyer als Sarah Jane, die manche Hörer schon aus den Kutscher-Hörspielen kennen, trifft den Ton eines geschundenen Lebens und nie endenden Lebenswillen brillant. Sie rettet die eher statisch besetzten Mitspieler. Natürlich muss der FBI-Agent eine tiefe, rauhe Stimme haben. Und der junge Polizist, der sie massiv in Schwierigkeiten bringt, klingt schwach und unsicher, was er überhaupt nicht ist. Daher ist es wohl kein Zufall, wenn der Sender keine Zuordnung der Sprecher zu den Personen veröffentlicht.

Die Hauptschwäche des Hörspiels ist aber, dass nahezu alle Dialoge eine Ansammlung von manchmal klugen, aber immer überflüssigen Lebensweisheiten sind, die auch selten zu den Charakteren passen. So reden Menschen nicht. Da hätte die Bearbeitung etwas mutiger streichen können. Bei aller Handlungsspannung fehlt dem Hörspiel ein Thema. Dass Leben hart und voller nicht auszuhaltender Widersprüche und Todesängste sein kann, haben andere Hörspiel überzeugender nahebringen können.

 

Fazit

 

Kein Hörspiel für klassische Krimiliebhaber oder hard-boiled Fans. Trotz vieler Mängel lohnt es sich hineinzuhören, weil die Form zwar anspruchsvoll, aber hörenswert ist.

 

Wertung 75%

 

Dauer 110 min in zwei Teilen

 

 

Verfügbarkeit

 

ARD Mediathek

 

 

Sonstiges

 

Auf Audible gibt es eine englisch-sprachige Hörbuchversion

 


 

Rezension über die deutsche Erstausgabe 

 

Info über den Autor auf Wikipedia 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 20. November 2022

Der Name der Hose – Der unverbesserliche Kai Magnus Sting

 

Cover des Hörverlages

Die Liebhaber haben schon gelauert. Nun (Okt. 2022) ist tatsächlich ein Teil 3 von Tod unter Gurken im Hörverlag erschienen. Der geneigte Hörer erwartet das gewohnte Trio und die gewohnten Sprecher. Doch er wird eines Besseren belehrt. Nichts ist beständiger als der Wandel. Allerdings ist es nicht unerwartet, dass der Herr Sting mit dem Titel dieser zweistündigen Episode etwas übermütig antritt.

 

Inhalt

 

Jupp Straten und Willi Dahl telefonieren. Alfons Friedrichsberg ist verschwunden. Straten hat eine Postkarte von Friedrichsberg bekommen:

Die beiden machen sich ohne jede Verzögerung auf den Weg nach St. Blasius. Ein klassisches, imposantes Kloster im Tal vor dem hohen Gebirge. Nachdem sie klären konnten, dass sie nicht zur Parteiveranstaltung der Traditionsbewahrer gehören, werden sie zum Abt gelassen. Friedrichsberg ist der Abt. Aber nicht der Dicke, sondern ein Dünner, sein Zwillingsbruder. Er braucht Hilfe, weil ein Mönch tot in einem Fass aufgefunden wurde. Die Drei gehen gemeinsam ans Werk und treffen auf das pralle Klosterleben. Der blinde Mönch, der für den Kräutergarten zuständig ist, aber altersbedingt, die giftigen von den harmlosen Kräutern nicht mehr unterscheiden kann. Geheime Bücher, zu denen niemand Zugang hat. Die Äbtissin, aus dem nahegelegen en Frauenkloster, die sich Sorgen um die brachliegende Reliquienproduktion macht. Wer schleicht nachts im Eulengewand durch den Kräutergarten. Kai Magnus Sting eben. Sprachwitz geht vor Handlung. Alles was man sich ausdenken kann, kann man auch schreiben.

 

 

Das Hörspiel

 

Die Hörspiele von Kai Magnus Sting kann man nicht durch die Inhalte beschreiben. Sie geben den Rahmen der Szenerie vor. Da gibt ein Kloster und der Titel mit der Referenz zu einem weltberühmten Roman schon eine wunderbare Erwartung vor. Aber diese Erwartung wird dauernd zerstört, es passiert etwas ganz anderes. Dadurch entsteht die Spannung. Kai Magnus Sting lässt alles aufführen, was zur An-und Zumutung rechtens ist. Ein Hörgenuß ohne Ende.

Es gibt einen begleitenden Erzähler. Nein, es gibt zwei. Einer hat keine Ahnung. Der andere ist allwissend. Aber das kann der Hörer unterscheiden.

Neben der überbordenden Ideenvielfalt sind aber die Sprachsorgfalt und der Sprachwitz die Stärke des Autors. Das Kloster liegt in einem tiefergelegten Hochplateau! Erinnerung ist der Frosch im Magen eines Storches. Da muss man erstmal drauf kommen.

Genial der Dialog über einen wackelnden Autositz. Da wird das Banale schon mal zum Erhabenen.

Die Texte sind immer geistreich, manchmal albern, gelegentlich zotig. Das der Autor belesen  ist, muss den Hörer nicht wirklich wissen.

 

Die Sprecher

 

Sting setzt auf das Vertraute und wohl Bekannte. Das Team von Sting, Annette Frier, Christoph Maria Herbst und Bastian Pastewka sichert allein schon eine gewisse Hörerschaft. Jeder von ihnen muss auch noch mehrere Rollen übernehmen. Was ja so ungewöhnlich nicht ist. Der Autor z.B. ist Ehemann, Vater und Großvater. Und es klingt immer etwas anders. Sie erfüllen diese schwierige Aufgabe mit Bravour. Lediglich Chr.M. Herbst ist eine Fehlbesetzung. Er ist populär, aber nicht vielseitig. Alles klingt immer nach Christoph Maria Herbst. Damit kann man reich werden, aber nicht besser. Pastewka ist da ähnlich, aber er bleibt halt bei seinen Leisten. Annette Frier ist das Gegenbeispiel. Eine erfolgreiche Fernsehschauspielerin, der hier wunderbar differenzierte Töne gelingen. Sting kann einfach alles. Ich warte nur noch darauf das er singt. Oder tut er es schon? (Das soll ein doppelter Gag sein).

 

 

Fazit

 

Kai Magnus Sting ist eine Wunderkerze in der Hörspielwelt. Ein begnadeter Autor. Seine Hörspiele vermitteln dem Hörer, seine Worte zu wählen, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und Spaß zu haben ohne Ende. Aber es ist wohl auch ein Angebot an eine treue Minderheit.

 

Wertung  85%

 

Dauer ca. 110 min

 

 

Verfügbarkeit

 

Hörverlag

 

Amazon

 

 

Jeweils mit einem liebevoll gestalteten und informativem Booklet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dienstag, 15. November 2022

Haus der aufgehenden Sonne – Ani at it´s best

Danke Alexman89/Pixabay

 

Der Autor, Friedrich Ani, dieses Originalhörspiels ist ein kriminalistisches Urgestein, der viele Bücher veröffentlichte und etliche Originalhörspiele für Radio. Er ist eng mit München und seinen Kiezen verbandelt, schreibt aber eher mit feinem Stift und leicht melancholischem Klang.  Wer einen der populärsten Songs der Musikgeschichte zum Titel wählt, tritt mit einem gewissen Selbstbewusstsein an. Der Autor nimmt sich die Zeit, sein Thema in drei einstündigen Teilen zu erzählen. Der Hörer trifft dabei auf zwei typische Ani-Figuren, erstmals zusammen in einem Hörspiel.

 

Inhalt

 

Der Ex-Kommissar Jakob Franck überbringt dem Gastronomen Klaus Nadich die Nachricht vom Tod seines jüngeren Bruders Dirk. Er wurde im Feringasee gefunden. Jakob Franck arbeitet ehrenamtlich für die Polizei als Überbringer schlechter Nachrichten! Der Fall wird von der Oberkommissarin Fariza Nasri und ihrem Team bearbeitet. Die klassischen Ermittlungen beginnen beim Bruder, der keine glaubwürdiges Alibi hat und häufig mit ihm in Streit geriet, weil die Kneipe nicht recht lief. Tatwaffe war ein russisches Militär-Messer, das nur ein Händler in München im Angebot hat. Dann gibt es den zweiten Toten. Mit dem identischen Messer ermordet. Die Polizei sucht fieberhaft nach einem Zusammenhang. Den gibt es. Beide waren regelmäßig Gast in der großzügigen Wohnung der „Trude“, einer älteren Dame, im Glockenbachviertel. Sie ist die Vermieterin der Gaststätte und hatte schon Polizeibesuch wegen Verdachts der Hehlerei. Es gab aber keine Verdachtsmomente wie der Kollege Steffen Behrend vom Drogendezernat bestätigt. Behrend ist aber auch kein Unschuldslamm. Er mobbt die Kollegin Nasri und schlägt sich gerade mit einem Verfahren wegen körperlicher Gewalt rum. Als Videoaufnahmen im Nachbarhaus der Trude sein Auto zeigen, gerät er selbst in Mordverdacht. Kurz darauf wird er ermordet aufgefunden. Sorgfältige Ermittlungsarbeit des Teams um Fariza Nasri und die geduldigen Gespräche des ehrenamtlichen Polizeihelfers führen zur überraschenden Lösung der Fälle. Grund genug, dass die Sonne aufgeht.

 

Das Hörspiel

 

Friedrich Ani ist ein Profi. Teil 1 beginnt und endet mit einem Mord. Teil 2 endet mit einem Mord und Teil 3 mit der Aufklärung. 3 Tote, mind. 5 Verdächtige und ein überraschendes Ende. Blitzsaubere Krimikonstruktion. Die Geschichte wird ohne Erzähler gesprochen, mit gelegentlichen persönlichen Kommentaren von Nasri. Wechselnde Spielorte machen den Hörer beständig neugierig: Das Verhörzimmer der Polizei, eine versiffte Kneipe, ein Etablissement der gehobenen Art, ein Waffenladen. Ein Nachtclub, in dem eine Zeugenbefragung stattfindet, wird somit zur Hörbar. Das Hörspiel lebt von drei Gruppen. Die Polizei mit dem ehrlichen, bunten Team um Nasri und dem zweifelhaften Drogenpolizisten, den Opferfamilien und der Gruppe bunter Mitspieler. Alles von Herkunft, Tonfall und Charakter sehr eigen und überzeugend gesprochen. Kein Dialekt, aber deutliche landsmannschaftliche Färbungen, wie in einer Multi-Kulti-Großstadt eben. Absolut herausragende Sprecher sind Martin Feifel als Jakob Franck und die wunderbare Christiane Blumhoff als Waltraud Asimov. Insbesondere die Dialoge dieser beiden sind ein akustisches Kabinettstückchen wie man es selten hört. Die Redekunst des Überbringers schlechter Nachrichten kann gut und gerne in Gesprächskursen vorgeführt werden. Aber auch die Verhöre in der Polizeistation oder in der Kneipe. Jedes Mal ein anderer, erfolgreicher Weg. Aber neben dem überaus geglückten kriminalistischen Plot erzählt das Hörspiel eine Geschichte von zerstörten Familien, von Menschen, die einsam sind oder ausgegrenzt und einen Ort der Ruhe suchen oder einen Menschen, der ihnen zuhört. Es ist unüberhörbar eine Liebeserklärung an das touristisch überlaufene Glockenbachviertel in München, wo es noch diesen Raum gibt. Kurz vor Schluss gibt es eine berührende Szene mit Jakob und Trudi, die einem im Kino Tränen in die Augen getrieben hätte. Erst am Ende, wenn bereits der Morgen beginnt und die Sonne über München aufgeht, hört man dann den berühmten Song in einer ungewöhnlichen, harten, rockigen Form. Man muss genau hinhören, um ihn zu erkennen. Aber darum geht es Ani wohl auch: Hinhören

Nicht zufällig tickt häufig im Hintergrund eine Uhr, leise musikalische Untermalung umspielt die Sprecher.

 

Fazit

 

Ohne Frage ein kriminalistisches Kunstwerk, Friedrich Ani auf dem Höhepunkt seines Hörspielschaffens. Keine Minute langatmig, spannend und zudem noch bedenkenswert.

Ani und das Produktionsteam führen vor, wie man Regionalkrimis modern, aktuell und hörenswert gestalten kann. Um ein schönes Wort von Ani zu verwenden: Das Hören wird zum „Zeitgenuss“.

 

Wertung  95%

 

Dauer  165 min in drei Teilen

 

 

Verfügbarkeit

 

ARD Audiothek oder beim BR              

 

Sonstiges

 

Die im Hörspiel angespielte Song-Version 

 

 

Interview mit Friedrich Ani zu seinem Hörspiel

 

Musik und Komposition 

 

Der Feringa – See 

 

DasGlockenbachviertel 

 

 

 

 

 

 

 

Die Experten – Nicht nur für Hörspielexperten

 

Buchcover

Die 5-teilige Hörspielbearbeitung (Okt.22) zu je ca. 50 Minuten basiert auf dem gleichnamigen Buch der Autorin Merle Krüger, das 2021 erschien und schnell auf die Krimibestenliste kletterte. Das Buch umfasst gute 600 Seiten, da wundert es nicht, dass auch das Hörspiel seine Zeit in Anspruch nimmt. Produziert wurde das Hörspiel vom Deutschlandfunk, der in seinen letzten Krimis eine gewisse Neigung zu Doku-Fiktion offenbarte.

 

Inhalt

 

Die 16-jährige Rita Hellberg fliegt von der Schule. Es ist Anfang der 60-Jahre. Von Hamburg reist sie zu ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Pünktchen nach Kairo. Dort arbeitet seit kurzem ihr Vater. Er ist ein erfolgreicher Flugzeug-und Raketeningenieur und findet in Nachkriegsdeutschland keine angemessene Beschäftigung. Da trifft es sich gut, dass der neue ägyptische Präsident Nasser Raketenexperten für große Visionen sucht. Die deutsche Politik unterstützt dies. Hellberg wurde über die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung nach Kairo mit anderen Hochkarätern entsandt.  Nach wenigen Tagen entscheidet Papa Hellberg allein, dass Rita in Kairo bleiben muss. Sie soll sich um die kleine Schwester kümmern und einer ordentlichen Arbeit nachgehen. Er vermittelt ihr einen Bürojob im Projekt. So erhält sie täglich Eindruck von der Arbeit der „Experten“. Manche haben schon für die Nazis gearbeitet, manche in der Sowjetunion, keiner traut den Ägyptern was zu. Da bleiben Spannungen nicht aus. Aber mit einer Briefbombe hat keiner gerechnet. Waren das die Israelis? Die Situation eskaliert zunehmend. Es gibt weitere Attentate. Rita beginnt Fragen zu stellen. Kann ihr ein guter Freund ihres Bruders helfen? Ist er Journalist oder israelischer Geheimagent? Das Ganze wird zusehends gefährlicher und politischer.

 

Das Genre

 

Rezensenten haben schon beim Buch mit einer Einordnung ihre Probleme gehabt.  Es ist Roman und Dokumentation, es ist Krimi und Novelle. Und dann ist es auch noch historisch. Im Hörspielbereich gibt es allerdings auch aktuelle Ähnlichkeiten. Der „Kalte Onkel“ von Caroline Labusch basiert auf ihrer eigenen Familiengeschichte und geht bis in die 1920-er Jahre zurück. Dort entsteht die Spannung durch die Spurensuche. Ganz frisch erschienen ist auch „Der erst Tote“ von Tim MacGabhann, der Realität und Fiktion zu einem aufwühlenden mexikanischen Krimi bündelt. Eine ähnliche Mischung aus Fiktion und Dokumentation wird in der neuen kommerziellen Serie „Die grössten Fälle des BND“ eingesetzt.

 

Das Politische

 

Das Hörspiel ist nicht direkt politisch, sondern schildert ein Familienschicksal in den 1960-er Jahren, das unversehens in politische Konflikte gerät. Der Hörer erfährt, dass alte Nazis immer noch wichtige Ämter besetzen konnten, dass die Russen keine Hemmungen hatten Nazi-Ingenieure zu beschäftigen. Dass rassistische Vorurteile gegenüber Israelis und Ägyptern Alltag waren. Und dass hochqualifizierte Experten immer politisch agieren. Gut, das gerade jetzt zu betonen. Etwas weniger direkt deutet das Hörspiel an, warum die jungen 68-Menschen so ungeduldig wurden.

 

Das Hörspiel

 

Der hohe Anspruch des Textes führt zu einer komplizierten Erzählstruktur. Im Mittelpunkt stehen immer Rita und ihre Familie. Der Hörer erlebt mit wie aus der frechen Göre zusehends eine junge politisierte Frau wird. Sie wird von einer „allwissenden“ Erzählerin unterstützt. Die chronologische Struktur wird durch das Betrachten von Fotos wie im Rückblick in einem Album erleichtert: Es gibt ein Foto, aufgenommen am .... Dann wird geschildert, was zu sehen ist. Manchmal nur geschildert, manchmal folgt aber auch ein innerer Monolog des Betrachters. Gelegentlich auch im Rückblick

Die Szenen spielen in Kairo. Dort im Casino oder im Werk oder in der Wüste. Filmreife Szenerien. Alles aufwändig und sorgfältig vertont und bewundernswert anzuhören. Wie nie vorher hört man startende Raketen und glaubt die Explosionsgase zu riechen. Wie in einer Spirale klettern die Konflikte immer weiter nach oben. Die Familie mit der leidenden Mutter, dem fremdgehenden Vater und der verunsicherten Pünktchen. Dann die Experten im Werk: alle gegen die Ägypter, manche gegen die Israelis, interne Intrigen. Zuletzt hochpolitische Attentate, große Politik und alltägliche Spionage. Und die Fiktion wird zunehmend zur Dokumentation. Es werden Original-Akten vorgelesen und Original-Töne (z.B. Adenauer) eingespielt. Junge Hörer werden den Dokumententeil kaum glauben und froh sein, dass sich wenigstens die Familienbeziehungen gebessert haben.

Das Alles wird in gutem Tempo mit beneidenswert vieltönigen Sprechern vorgetragen und ist ausgesprochen spannend und unterhaltsam.

Die Musik ist vorsichtig elektronisch und angemessen ethnisch. Bei der Szene in der Disco juckts den Hörer in den Füßen. Der Sound ist filigran integriert und technisch perfekt. Beim Sound hätte man manchmal gegen die Erwartungen der Hörer arbeiten können. Warum muss bei der Ankunft am Flughafen gleich der Muezzin rufen?

Zwar hat jede Episode einen eigenen Titel und damit ein eigenes Thema, aber die Pausen dazwischen sollten nicht zu lang sein.

 

Making-off

 

Das Hörspiel wird begleitet von einer Reihe informativer Materialien. Das zweiteilige Feature von Stefanie Schulte-Strathaus gibt einen sehr persönlichen Einblick in die reale Familiengeschichte, die Kröger zum Ausgangspunkt ihres romanhaften Thrillers macht. Interview von Massimo Maio mit der Bearbeiterin Katrin Zipse, der Regisseurin und dem Toningenieur, den Musikern und der Autorin Merle Kröger geben einen hörenden Blick in die Welt der aufwändigen und sorgfältig durchdachten Produktion eines solchen Werkes (70 Stunden Material, 12 Wochen Arbeit). Schade, dass der völlig kritiklose Interviewer im Wesentlichen die Wörter toll und spannend beherrscht. Manchmal ist es ein Nachteil, dass wir alle per du sind.

 

Fazit

 

Das Hörspiel wird seinen Weg durch die Goethe-Institute und politische Bildungseinrichtungen dieser Welt gehen. Daher sei betont: Es ist ein begeisterndes, hörenswertes Kunststück, welches Familiendrama und Politik beneidenswert verknüpft. Manche Ältere werden erblassen, wie wenig sie von dieser Wirklichkeit realisiert haben. Die Jüngeren nie verstehen, wie so etwas passieren konnte. Vielleicht ändert sich das ja doch noch.

 

Wertung  95%

 

Dauer 275 min in fünf Episoden

 

 

Verfügbarkeit

 

ARD Mediathek oder beim Deutschlandfunk und auf Youtube

 

Sonstiges

 

Verschiedene Interviews von Merle Kröger zu ihrem Buch auf ihrer eigenen Homepage 

 

Interview auf einer WDR-Seite 

 

Aktuell finden sich alle Episoden und die fünf Werkstattgespräche noch in der Audiothek

(aufgerufen am 13.11.22) 

Die Essays von Stefanie Schulte Strathaus, ihre Familiengeschichte hat die Autorin zu ihrem Buch ermuntert. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sonntag, 13. November 2022

Schnee von gestern – Episode 3 der Serie Honigsüß und Mausetot

 



Schnee von gestern ist die dritte Episode (Okt.22) der seit 2020 von HM Audiobooks produzierten Crime-Comedy-Reihe Honigsüß und Mausetot. Die Episoden verbindet ein gemeinsamer Hintergrund von Ort und Personen, sind aber jede für sich gut nachvollziehbar. Hauptfigur ist der Polizist Henning Boolken, der aus der Großstadt geflohen ist und in seinem Heimatdorf Dwaarsmoor einen Neuanfang sucht. Autoren sind das in Detmold beheimatete Paar Martina und Timo Bürstel, die auch schon für die Reihe Die Alte und der Kommissar tätig waren.

 

 

Inhalt

 

Henning wird es nun doch etwas eintönig, weil im Dorf wenig Gefährliches passiert. Und dann soll er auch noch seine junge Schwester als Praktikantin beschäftigen. Aber im Tresor entdeckt er, dass es einen noch ungeklärten Fall gibt. Der ist 30 Jahre her. Dennoch ist Henning bei seinem Ehrgeiz gepackt. Er verspricht sich viel davon, dass seine Eltern oder sein Großvater, der zu der Zeit Polizist in Dwaarsmoor wahr ihm helfen. Doch er trifft auf eine Mauer des Schweigens. Als hätte das ganze Dorf etwas zu verschweigen: Der Skatclub, die eifersüchtigen Teenies: alle scheinen sie irgendwie verwickelt. Mit Beharrlichkeit und Ausdauer findet Henning die unerwartete Lösung und legt den Fall dann doch wieder zu den Akten.

 

 

Das Hörspiel

 

Schnee von gestern ist ein nettes, hochprofessionelles Hörspiel. Nicht spannend im klassischen Sinn, nicht ironisch oder schenkelklopfend lustig. Aber immer wieder überraschend und zum Schmunzeln ermunternd. Die norddeutsche, ländliche Atmosphäre wird gut getroffen, gelegentlich etwas zu bräsig, um im Norddeutschen zu bleiben. Die Sprecher sind deutlich dem Norden zuzuordnen, ohne in unverständliches Platt abzudriften. Sie finden meist den richtigen Ton! Die Stimme der Praktikantin erinnert leider stark an Lidl-Radio-Reklame. Manche der Szenen wird der Hörer aus seinem Familienleben durchaus wiederkennen: Die unlustige aber vorlaute Praktikantin, Infos über das Liebesleben der Eltern als Teenies. Da ist doch jeder neugierig. Im Mittelpunkt steht der Polizist Hennig, der zwischen Neugier und Pflichtbewusstsein auf der einen Seite, der Ruhe im Dorf und der eigenen Familie hin-und hergerissen ist. Das alles wird sehr ruhig und chronologisch sauber erzählt. Da der neu zu  untersuchende Totschlag schon 30 Jahre zurück liegt, bleibt mancher langwieriger Rückblick nicht aus. Nach kurzer Zeit lauert der Hörer schon auf die stetigen running gags: Der schlechte Kaffee der Praktikantin, der leckere Butterkuchen der Mutter. Typische Serienelemente also.

 

 

Fazit

 

Der Hörer sollte nicht zu anspruchsvoll sein. Ein gut gemachter netter Regionalkrimi, der auch nicht abwegiger ist, als manches Gruselhörspiel. Vielleicht gelingt den Autoren ja, der etwas schlichten Grundidee manches Abenteuer zu entlocken.

 

 

Dauer 65 min

 

Verfügbarkeit

 

Amazon, HM-Audiobooks oder für lau auf youtube

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 7. November 2022

Das Dünengrab auf Amrum – Episode 23 der Inselkrimis

 

Contendo Media

 

Wenn eine Reihe schon 23 Episoden veröffentlicht hat, hat der Produzent auf jeden Fall den Geschmack der Zuhörer getroffen. Seit 2015 unterhalten die Inselkrimis den Hörer „mit norddeutschem Charme und Witz“ (Verlagsinfo). In jeder Episode steht eine deutsche Insel im Mittelpunkt. Auf der Insel geschehen rätselhafte Dinge, die dann von einem sympathischen Team geklärt werden. Contendo setzt auf wechselnde Autoren und bekannte, beliebte Sprecher. Unterhaltsame Musik versetzt den Hörer in die entsprechende Stimmung.  Das Amrumer Team löst nun (Okt.22) seinen zweiten Fall.

 

Inhalt

 

Die junge attraktive Lucy überredet den Polizisten Jan zu einem Ausflug mit offenem Ende ins einsame Naturschutzgebiet von Amrum. Wie die kleinen Kinder buddelt sie Jan tief in den sommerlich warmen Sand ein. Beide amüsieren sich über etliche Kondome, die sie beim Buddeln finden. Doch dabei bleibt es nicht. Zu ihrem Entsetzen finden sie eine verwesende, ekelerregende Leiche!! Der Tag ist gelaufen. Jan holt seinen Kollegen Hauke und den örtlichen Arzt, um den Tatort genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei entdecken sie eine zweite Leiche.

Beide wurden erschossen. Die Leichen werden auf die Schnelle beim Arzt aufgebahrt. Die Toten liegen vermutlich seit 6-8 Wochen im Sand. Es sind kaum hilfreiche Spuren zu finden. Dennoch entscheiden die Polizisten die ersten Tage allein zu ermitteln, um den Tourismus auf der Insel nicht zu gefährden und machen sich auf die Suche nach kurzfristig abgereisten oder vermissten Gästen. Dabei hilft ihnen die gewöhnlich gut informierte Postbotin Waltraud. Sie ermitteln, dass die Tote die Tochter eines Dorfbewohners ist, die frisch auf Lateinamerika angereist ist. Warum hat sie nicht bei ihrem Vater gewohnt? Warum wurde ihr der Bauch aufgeschnitten? Und dann werden die Leichen auch noch beim Hausarzt gestohlen. Wer macht denn sowas? Die Beiden ermitteln unter Zeitdruck, da ein möglicher Täter die Insel nicht verlassen darf. Bevor ihnen der Fall über den Kopf wächst, kommt es aber zu einem extrem spannenden und überraschenden Ende mit einem weiteren Toten.

 

Das Hörspiel

 

Das Hörspiel fasst zwei Ermittlungstage zusammen. Die Handlung überschlägt sich nicht und es genügend, Zeit sympathische Nebenfiguren wie die Postbotin oder eine Gastwirtin wirken zu lassen. Nach einigen Dialogblöcken ist immer eine beruhigende Zwischenmusik zu hören. Das Polizeiteam ist sympathisch und überzeugend gespielt. Wie überhaupt alle Sprecher/-innen glaubwürdig klingen. Natürlich alles mit leichtem, norddeutschen Unterton und schlichtem Witz. Zum Thema Atmosphäre gehört auch, dass Kommissar Hauke drei Schnäpse trinken muss, um die Postbotin zum Reden zu bringen. Kenner freuen sich, den im Jan.22 verstorbenen Ekkehard Belle noch einmal als überzeugenden Dorf-Doc zu hören. Die Spannung entsteht dadurch, dass bei jedem Ermittlungsschritt die Situation komplexer und schwieriger wird. Da bekommen die ausgebuddelten Kondome plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Manche der Szenen sind zwangsläufig eklig und werden auch so gespielt.

Schade, dass die an sich selbstbewusste Lucy sehr stark an das Motiv: Und ewig lockt das Weib erinnert. In einigen Passagen driftet der gut geschriebene Text stark ins Zotige, Derbe ab.

 

Fazit

 

Ganz solide handwerkliche Hörspielarbeit mit norddeutschem Charme und Witz. Der Plot ist unerwartet und ausgesprochen gelungen. Ekelfaktor und Zoten passen nicht in dieses sonst runde Hörstück.

 

Wertung  75%

 

Dauer 70 min

 

 

Verfügbarkeit

 

Contendo Media oder in den gängigen Streaming-Diensten

 

Sonstiges

 

Hörprobe auf Youtube:

 

 

 

 

 

 

 

 


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