Sonntag, 25. September 2022

Das mit de Zoe – Ein Schweizer Highlight in trister Hörspielwelt

 

© SRF/ Luc Müller

Die Hörspielredaktion des SRF ist bekannt für ihre herausragende Arbeit. Insbesondere die Krimis werden gehegt und gepflegt. Alte Schätze werden geborgen und gespielt, neue wagemutige Produktionen auf den Weg gebracht. Die Redaktion führt in die Krimis ein und begleitet den Hörer mitunter mit ergänzenden Reflexionen. Ja und es gibt immer engen Kontakt zu den Hörern.

Eins dieser Highlights ist ein neuer 10-teiliger Podcast: Das mit de Zoe. Auch wenn Jugendliche die eigentliche Zielgruppe sind, ist es für alle höchst hörenswert. Die Krimiredaktion hat den Podcast und drei einstündigen Episoden zusammengebastelt. Für deutsche Hörer gibt es einen Wermutstropfen: Gesprochen wird Schwytzerdütsch(Zürich). Aber wer Glaser oder Hunkeler liebt, wird auch diese Herausforderung bewältigen.

 

Inhalt

 

Die junge Gymnasiastin Zoe wird an einem Morgen besinnungslos in der Nähe ihrer Schule vorgefunden. Sie wurde vergewaltigt, kann sich aber an Nichts erinnern. Am Abend vorher hatte in der Turnhalle eine Fete stattgefunden, die zu später Stunde von Alkohol und Drogen beherrscht wurde.

So beginnt der 10-teilige Podcast. Polizei, Schule und vor allem die Schüler selbst machen sich auf die Suche nach dem Täter. Die Lehrer sind fassungslos. Klar, einige der Schüler sind schwierig, lassen sich auf Drogen und Alkohol ein. Aber eine Vergewaltigung? Die Polizei tut sich schwer zu erkunden, was an dem Abend wirklich geschehen ist. Die Schüler blocken, lassen sich nicht in die Karten schauen. Die beste Freundin von Zoe, die Sofie, lässt aber nicht locker. Immer wieder fragt sie in der Klasse nach: Was ist geschehen? Grübelt über Motive nach. Viele geraten in Verdacht. Der in Zoe verliebte, aber abgewiesene Ben. Der zurückhaltende von Zoe gemobbte Alex. Oder Luca, der Freund von Sofie,  der auf seinem Computer Fotos von der vergewaltigten Zoe hat. In einem Gewirr von Gerüchten, Verdächtigungen und Lügen gelingt es Sophie den Täter zu entlarven.

 

Zur Produktion

 

Das Hörspiel basiert auf einer Vorlage der Drehbuchautorin Julie Budtz Sørensen, die 2018 im dänischen Rundfunk gesendet wurde. Der in Kopenhagen lebende Schweizer Theatermacher Andres Liebermann adaptierte die Vorlage und übertrug sie ins „Züritütsch“.

Der SRF entschied sich, die jugendliche Clique von Schauspielschülern sprechen zu lassen, um möglichst authentisch zu wirken. Aufgenommen wurde nicht nur im Studio, sondern auch an vielen „realen“ Orten mit allen ihren Nebengeräuschen.


© ARD SRF/Oscar Alessio


 

Das Hörspiel

 

Das Hörstück wird in zehn halbstündigen Episoden erzählt mit Titeln wie Party, Grücht, Porno, Bitch. Allerdings sind die Episoden nicht unabhängig voneinander zu hören. Jede Episode beginnt mit einem Einspieler von der zweifelhaften Party und endet mit einer langen, wunderschönen Musikpassage. Die Handlung entwickelt sich entlang der immer tiefergreifenden Neugier der nachfragenden Sofie. Protagonisten sind die Clique, die Schule, die Polizei und ein wenig die Eltern.

Der Titel „Das mit de Zoe“ sagt schon etwas über die männliche Sichtweise: Ja da war irgendwas, aber wir wollen möglichst nichts damit zu tun haben. Sofie gerät mit ihrem Nachfassen in ein Dickicht von Verdächtigungen, Sex, Mobbing, Hass, Drogen. Jedenfalls in unendlich viele Emotionen von Halbwüchsigen. Bei der Suche nach der Wahrheit stellt sich heraus, dass es nicht eine Wahrheit gibt, sondern viele. Was heute noch richtig schien, ist morgen schon falsch. Damit gelingt es dem Podcast eine tief berührendes Bild dieser Heranwachsenden zu malen. Zugleich ist es auch Mahnung: Seid vorsichtig Vertrautes öffentlich  zu machen und Hass und Neid zu streuen. Am Ende gibt es einen Täter, aber viele, die durch ihr Verhalten solche Taten begünstigen.

Das Hörspiel ist spannend, weil es durch neue Wahrheit immer wieder Überraschungen gibt. Kriminalistisch ist dies leider nicht Spitzengruppe, weil die Spannung nur entsteht, indem die Jugendlichen Schweigen oder Lügen und nur Sofie als allwissende Ermittlerin den Täter ermittelt.

Die Schauspielschüler machen einen tollen Job.  Der Hörer bekommt das Gefühl mittendrin in der Gruppe zu stecken. Leider braucht es ein paar Episoden um die Personen den Stimmen zuzuordnen, weil diese Stimme jung sind, aber wenig einprägsam.

Es fällt auf, dass Leben außerhalb dieser Clique und Szene nicht vorkommt. Keine Politik, kein Alltagsgeschehen, kaum Familie. Nur der Mikrokosmos.

 

Die Musik

 

Musik scheint im Hörspiel wieder eine größere Rolle zu spielen. In diesem Podcast ist die Musik des jungen Noah Ferrari ein absolutes Highlight. Das Hörspiel nimmt sich immer wieder viel Zeit für Musik, zum Ende einer Episode mehrere Minuten. Diese moderne Musik, sparsam instrumentiert, sehr melodisch hilft dem Hörer die Bilder im Kopf mit vielen bunten Farben zu versehen. Schöner kann Kopfkino nicht klingen.

Eine Liedzeile von Steiner & Madleina trifft wohl die Ambivalenz dieser Jugendlichen: 

„Wenn du mich wie eine Frau berührst,

mich mit Humor verführst

will ich heute dir gehören

ich habe Lust mich zu zerstören“

 

Auf Youtube gibt es ab Min. 24 einen Mitschnitt diese Liedes: Denk was du willst

 

Fazit

 

So klingt Hörspielkunst. Spannend, realistisch, nachdenklich, träumerisch. Was will man mehr? Ein absolutes Muss für jeden Hörspielfreund, trotz Dialekt und derber Sprache.

 

Wertung 90 %

 

Dauer 10 Episoden zu ca. 30 Minuten als Podcast

 


Zum Reinhören

Trailer: Das mit de Zoe

als dreiteilige Hörspielversion: Krimi

 

als zehnteiliger Podcast: Podcast

 

Kostprobe des dänischen Originals: Det mit de Liv

 

Podcast und Musk auf der Spotify: Playlist

Samstag, 24. September 2022

Die größten Fälle des BND 01: Der unverzichtbare Feind


 

Als Spin-off der erfolgreichen Serie „Die größten Fälle von Scotland Yard“ veröffentlicht der rührige Maritim-Verlag eine neue Serie aus der Welt des Bundesnachrichtendienstes und der Geheimagenten. Die 1. Episode erschien Ende August 22 und es sollen 11 weiteren Episoden im Abstand von ca. 14 Tagen veröffentlicht werden. Der etwas komplizierte Produktionshintergrund deutet bereits an, dass hier ein neuer Wind weht.

 

Inhalt

 

Die Serie erzählt aus dem Leben der Kunststudentin Anna Gudwin, die sich auf die Suche nach ihrem totgeblauten Vater macht. Dies fiktive Geschichte wird immer wieder unterbrochen durch historische Szenen aus der zweifelhaften Geschichte des Bundesnachrichtendienstes. Gegen Ende der 1.Episode versteht der Hörer diese Verknüpfung.

 

Handlung Fiktion

 

Die gerade exmatrikulierte Kunststudentin Anna wird im Gedrängel von einem Mann angesprochen. Er hat alle ihre Wertsachen bei sich. Offenbar hat sich ein Taschendieb an ihrer Handtasche versucht. Die dankbare Anna lädt ihn in die nächstbeste Kneipe ein. Der hilfreiche Manfred Mor stellt sich als ein BND-Agent heraus. Er schlägt ihr vor, für den BND als Agentin zu arbeiten. Warum sollte sie das tun? Mohr berichtet, dass ihr totgeglaubter Vater kein harmloser Kaufmann, sondern ein BND-Agent, der möglicherweise noch lebt.

Anna beginnt tatsächlich eine Ausbildung zu Agentin. Als sie allerdings mit einem Kollegen anbandelt, gerät sie unversehens in einen Strudel von Abenteuern.

 

Handlung Doku

 

Der Nazi Reinhard Gehlen war gegen Kriegsende Leiter der „Aufklärung Ost“ und damit verantwortlich für alle Spionagetätigkeiten in Russland. Gegen Kriegsende kalkulierte Gehlen, mit Scheitern der Nazis und einer starken Rolle Russland im Nachkriegsdeutschland und ließ die wichtigsten Geheimdienstinformation heimlich auf Mikrofilm sichern und vergrub sie in einem Bergwerk, in dessen Nähe er sich dann auch versteckte. Hier nistet sich die Fiktion ein: Einer dieser Helfer war Annas Großvater! Gehlen gelang es tatsächlich, die Mikrofilme den Amerikaner als Pfand für seine Unbescholtenheit anzubieten. Er vermied nicht nur eine Verurteilung, sondern durfte auch die erste westdeutschen Geheimdienstorganisation unter der Obhut der Amerikaner aufbauen. Gehlen vertraute dabei massiv auf Alt-Nazis, die den künftigen BND (Bundesnachrichtendienst) durchsetzten.

 

 

Das Hörspiel

 

Doku und Fiktion sind ohne Erzähler vermischt und der Hörer braucht etwas Zeit sich einzuhören. Das verbindende Glied ist Annas Vater, der ein früher Mitarbeiter Gehlens war. Das Hörspiel verknüpft also eine Familiengeschichte mit der Zeitgeschichte.

Die Doku bezieht sich auf das Ende des 2. Weltkriegs, die Fiktion spielt in der Gegenwart. Aber dies alles wird zügig erzählt, atmosphärisch sehr dicht und zunehmend spannend. Die Figuren klingen mit ihren sprachlichen Färbungen authentisch wie selten. Es ist zu hoffen, dass die Hörer dies honorieren. Jenny Löffler gelingt es bestens dem Hörer die verwirrte, aber ehrgeizige Anna zum Leben zu wecken. Ein wenig unsicher, aber auch neugierig und mutig und dennoch voll im wirklichen Leben.

 

Form

 

Die Form ist in jeder Hinsicht überraschend neu. Es werden Fiktion und Dokumentation vermischt, die Story spielt in verschiedenen Zeitebenen und das alles wird ohne verbindenden Erzähler gesprochen. Gelegentlich gibt es Rückblenden. Der Stoff ist als Agenten-Thriller spannend, als politische Dokumentation ausgesprochen lehrreich. Soweit der gelernte Historiker das auf die Schnelle beurteilen kann, wurde hier saubere Recherche-Arbeit geleistet. Endlich lässt sich eine Regie darauf ein, ein Sounddesign zu hinterlegen, dass dem Hörer zuSDtraut, eigene Bilder im Kopf zu entwickeln. Originale Tondokumente erhöhen die Glaubwürdigkeit.

 

Produktion

 

Maritim/Highscore geht mit dieser Reihe nicht nur in der Form, sondern in der Produktion neue Wege. Produzent ist ein in Irland angesiedeltes Start-Up (Rockasheep/Audio Quants), das mutig die ausgetretenen Pfade verlässt. Weitgehend unbekannt sind Autor, Musiker, Sprecher und Themen. Der Hörer darf also nicht auf Vertrautes hoffen, sondern muss den Mut haben, sich auf Neues einzulassen. Netflix-Serienliebhaber werden hören, dass die Produktion sich dort etwas abgeguckt hat. Der Produzent Christoph Lehmann (zusammen mit Anette Karmann) bezeichnet dies als „Hollywood ohne Bild“.

 

 

Fazit

 

Die „Fälle des BND“ wildern in verschiedensten Genres, das macht sie neu und attraktiv. Ein wunderbares Hörerlebnis für viele Zielgruppen. Eine Mischung aus Spannung, Familie, Geschichte und Politik. Hört zu! Und freut euch auf weitere Episoden.



Wertung  85%

 

Dauer 76 min

 

 

Verfügbarkeit

 

Bei Winterzeit/Audiobooks oder den gängigen Streaming-Diensten

 

Sonstiges

 

Ein kurzer Teaser zur Einstimmung 


Eine kleine Hörprobe

 

Organisation Gehlen auf Wikipedia

 

Die Spiegel-Ausgaben ab März 1971: Pullach intern

 

Die ersten Minuten einer ZDF-Doku zur Veranschaulichung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Montag, 19. September 2022

Sakari – Viel Kunst, etwas Genuss

Buchcover

 

„Sakari lernt, durch die Wände zu gehen“ ist die aktuelle (29.08.22) Hörspieladaption eines Buches des renommierten, literarisch ehrgeizigen Autors Jan Costin Wagner. Das Buch wurde bereits 2017 als 6.ter und letzter Fall um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa veröffentlicht. Produziert wurde diese Bearbeitung vom Deutschlandradio Kultur. Schon 2008 hat der WDR ein erstes Hörspiel von Wagner adaptiert: „Das Schweigen“. Seine Bücher werden häufig dem Genre Skandinavien-Krimi zugeordnet, da sie in Finnland spielen und den typischen leicht melancholischen Tonfall haben.

 

Inhalt

 

Der junge finnische Polizist Petri beobachtet von seiner Wohnung aus, wie ein nackter Mann mitten im Ortszentrum mit einem Messer fuchtelt und sich selbst verletzt. Er läuft hinunter und sieht, wie dieser Mann in einen Brunnen klettert. Ein kleiner Junge, der Eis isst, schaut neugierig zu. Petri fordert den Mann auf, das Messer abzugeben und herauszuklettern. Die Situation eskaliert. Petri schießt. Das Kind ist gerettet, aber der Mann tot. Es ist noch ein Halbwüchsiger.

Petri ist verzweifelt, er wird vom Dienst suspendiert und vertraut sich seinem Kollegen Kimmo an. Sie schauen sich das Facebook-Profil des Toten an: Es ist seltsam und verwirrend. Der junge Mann muss psychische Probleme gehabt haben. Er wohnte in einer Betreuungs-WG. Während sie die Familie des toten Sakari besuchen, bricht im Nachbarhaus ein Brand aus. Zufall oder Absicht? Gibt es einen Zusammenhang zum Tod Sakaris? Tatsächlich ist Sakari am Tod der Nachbarstochter schuld. Vor einigen Jahren hat ist sie bei einem Motorradunfall durch sein Verschulden ums Leben gekommen. Petri und Kimmo tauchen tief in die Welt dieser beiden zutiefst verletzten Familien ein.

 

Skandinavien-Krimi?

 

Die Handlung spielt in Finnland und tatsächlich herrscht eine eher etwas melancholische Stimmung. Der filmkundige Hörer wird schnell an den finnischen Regisseur Akis Kaurismäki erinnert. Allerdings gibt es nicht nur eine düstere Welt voller Rätsel und Lebensweisheiten, sondern auch die dem Leben zugewandte Seite. Der alleinerziehende Kimmo hat eine schwere Lebenskrise unüberhörbar überwunden und hilft seinem Kollegen zugewandt und empathisch.Die noch zehnjährige Tochter Sanna ist lebenslustig und „schmeisst“ den Haushalt. Die vielen mitwirkenden Kinder heitern die deprimierende Szenerie immer wieder auf.

 

Die Inszenierung

 

Die Bearbeitung hat es nicht leicht mit der Vorlage. Das Hörspiel ist eine Ansammlung von beglückenden und verwirrenden Hörstückchen. Viele Figuren berichten gelegentlich von ihren Befindlichkeiten in inneren Monologen. Dann folgen in hohem Tempo Dialoge oder kleine Szenen. Es gibt reichlich Rückblenden. Und die vielen auftretenden Personen haben meist nur Vornamen, die sich der Hörer alle merken muss, um dem Stoff zu folgen. Zumal die sprachliche Vorlage höchsten literarischen Ansprüchen genügt und sich jeder Satz ins Ohr schleicht. 

 

Die Sprecher

 

Die beiden Hauptpersonen Kimmo und Petri sind überzeugend gesprochen. Kimmo ist bodenständig, aber auch sensibel. Petri ist der junge, unsichere Polizist, der noch Unterstützung benötigt. Die Mutter des toten Sakari hört sich betroffen an. Es klingt aber auch eine Gleichgültigkeit durch, weil sie es nicht geschafft hat, Sakari aus seiner Lebenskrise zu führen.

Es ist nie ganz einfach Kinderstimmen zu finden, die realistisch klingen. Hier ist der Regie eine Glanzleistung gelungen. Die vielen Kinderstimmen klingen wie in der wirklichen Welt. Insbesondere Kimmos Tochter sieht der Hörer vor sich: Wie sie ihren Vater be“muttert“, ihr Leben und das Leben ihres Vaters in die Hand nimmt.

 

Der Eindruck


Die Story wird zügig und abwechslungsreich erzählt. Das Ende bleibt lange offen und verstört den Hörer. Die Handlung ist nicht frei von inhaltlichen Schwächen. Erschießt ein Polizist tatsächlich einen nackten Jungen im Brunnen? Brennt gerade ein Haus ab, während die Polizei nebenan verhört?

Aber Handlung ist nicht alles. Der Krimi erzählt eine Geschichte von Familien, die schweres Leid erfahren haben und deren Handeln Außenstehende kaum verstehen. Bei aller Empathie seinen Figuren gegenüber bewahrt der Autor eine distanzierte, aber verständnisvolle Haltung. Der Vater von Emma, die beim Motorradunfall ums Leben gekommen ist, verlässt die Familie, weil er die Trauer nicht mehr aushalten kann. Im Hörspiel klingt viel Verständnis für diesen Schritt durch. Ein wenig erinnert Kimmos Vorgehen an Maigret, der den Menschen zuhört und versucht ihre Situation und möglichen Motive zu verstehen. Maigret ist die Lösung des Falles wichtig, nicht die Bestrafung der Täter.

Die sparsam instrumentierte Musik fängt die jeweilige Stimmung ein und betont sie, lädt aber   nicht zum Gedankenschweifen ein.

 

 

Fazit

 

Ein spannender Krimi mit etwas Skandinavien, ein wenig Melancholie und viel Psychologie sowie Lebensweisheiten auf hohem, literarischen Niveau. Etwas zu viel Kunst und zu wenig Genuss.


Wertung  75%

 

Dauer 56 min

 

 

Verfügbarkeit

 

In der ARD Audiothek 

 

Sonstiges

Interview mit der Regisseurin

Der Autor 

 

Sonntag, 11. September 2022

Hamm Special – Drei Preziosen als Hommage an die Looser aus Hamm

 



Außerhalb der regulären Tatort-Folgen veröffentlicht der WDR im Sommer 2022 drei Kurzkrimis (je 15 Min), in deren Mittelpunkt nicht der kriminalistische Plot steht, sondern die Besonderheiten eines Teammitglieds: Lenz, Ditters, Latotzke.

Es hatte sich schon angedeutet, dass der Autor Dirk Schmidt noch Lust auf Neues hat. Die Freunde des Hammer Teams werden es ihm danken.

Jede Episode ist in sich abgeschlossen, aber es gibt einen losen Zusammenhang und der Hörer sollte die vorgeschlagene Reihenfolge einhalten.

 

Quick and Dirty (24 min)

 

Ditters und Lenz müssen einen mutmaßlichen Mörder in seiner Verhörzelle auf den Zahn fühlen. Ditters begibt sich in die Zelle und gibt sich als Reinemachefrau aus. Der mögliche Täter ahnt nichts davon und lässt sich auf ein Gespräch mit der Putzfrau ein, die ihm schmeichelt, Limo besorgt und ihn immer mehr zum Reden bringt.  Das ist schon die inhaltliche Zusammenfassung.

Christine Prayon als Ditters und Thomas Anzhofer als einsitzender Täter führen hier ihre beeindruckende Sprechkunst vor. Der Text des Autors könnte glatt als Demonstration in Schulungen für Gesprächsführung genutzt werden, jenseits von typischen Polizeiverhören.

Am Ende ist der Fall geklärt und alle wollen sich auf die von Lenz bestellte Pizza stürzen.

 

Pizza Connection (20 min)

 

Die Pizza war ein Reinfall. Irgendein Fäkalfreund hat die Pizza ungenießbar gemacht. Lenz, wieder wunderbar gesprochen von Matthias Leja, begibt sich auf private Spurensuche und fordert Hilfe bei Ditters und Latotzke ein. Sie beobachten die Pizzeria und vor allem die unterschiedlichsten Kuriere. Wie jede Ermittlung zieht sich die Beobachtung ohne spürbare Ergebnisse in die Länge und die drei konzentrieren sich mehr und mehr auf eine Homestory von Lenz´ Kegelabend.

Auch in dieser Ermittlung steht ein Gespräch im Vordergrund. Am Ende stellt sich heraus, dass der Kegelabend und die Gefängnis-Pizza einen Zusammenhang haben. Ein Kammerspiel für drei, weil Lenz mit seinem Alkoholproblem am meisten auf Unterstützung angewiesen ist.

 

Nightfly (17 min)

 

Latotzke bekommt eine einmalige Chance. Er darf bei einem lokalen Radiosender eine neue Nacht-Sendung begleiten. Latotzke/DJ Latte legt auf und die Hörer dürfen ihn anrufen.

Doch schon der erste Anruf wirft den aufgeregten Latotzke aus der Bahn.  Eine stille Verehrerin aus den Disco-Abenden erklärt ihm ihre Liebe und erweist sich als Stalkerin. Die Situation spitzt sich nach mehreren Anrufen zu. Am Ende muss Latotzke seine Kollegen vom Polizeirevier zum Einsatz rufen: Die Frau droht mit Selbstmord.

Diese Szene ist Söhnke Möhrung als Latotzke auf den Leib geschrieben. Aber auch der lakonische, maulfaule Nachtredakteur Thiemo Schwartz und die beiden schwierigen Damen, gesprochen von Anja Herden und Leonie Renée Klein, halten den Hörer mit ihrer Sprechkunst wach. Ja und dann wird auch noch schöne Musik gespielt und zu guter Letzt ist dieses Minihörspiel eine ironische Auseinandersetzung mit Format „Höreranrufe“.

 

Fazit

 

Ein echter Hammer. Großen Dank an Autor, Sprecher und Bearbeiter für diesen Mut zu diesen kleinen Kunstwerken in ungewöhnlichem Format. Ein Muß für die Freunde des Hammer Teams. Eine dringende Empfehlung für alle anderen. Ob dies ein Abschiedsgeschenk ist oder Aufbruch auf neuen Pfaden bleibt offen.

 

 

Wertung 90%

 

Dauer drei Episoden zu knapp 20 min

 

 

Verfügbarkeit

 

In der ARD Audiothek oder direkt beim WDR

 

 

 

 

Montag, 5. September 2022

Ramsch – Ein „Hör“-Spiel in der Unterschicht

 

© ARD / Jürgen Frey


Ramsch ist das dritte Kriminalhörspiel des Autors Dirk Laucke in der Radio Tatort-Reihe für den MDR. Der Autor verortet diese Krimis in der fiktiven Kreisstadt Lörben, irgendwo zwischen Mannsfelder Land und Saale Kreis in Sachsenanhalt.  Im Zentrum der Ermittlungen steht die junge Polizeimeisterin Nancy Ritter, die aus dem Plattenbau-Gebiet Lörben-West stammt. Sie hat mit dem Polizeiapparat noch zu kämpfen und ständig Ärger mit ihrem vorbestraften Bruder Tommy.

 

Inhalt

 

Tommy Ritter, der Bruder der Polizeimeisterin Nancy, wird Vater. Er und seine Freundin Steffy freuen sich unbändig, ahnen aber zugleich, dass ihr Leben nun noch schwerer wird. Da trifft es sich gut, das Tommy seinen alten Kumpel Aaron aus der Platte auf der Entbindungsstation trifft: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Vier Monate später fragt Nancy ihren Bruder bei einem Babybesuch über diesen Aaron aus. Die entstellte Leiche seiner Lebensgefährtin Katrin Fräse wurde auf dem Lörbener Recyclinghof gefunden. An der kurzen Leine ihrer Chefin vom LKA, Gesche Krause, muss sich Nancy gemeinsam mit ihrem übergriffigen Kollegen Marchlewski um diesen Fall kümmern.

Als Erster gerät Aaron in Verdacht. Er scheint zu fliehen, als das Jugendamt versucht, ihm die drei Kinder zu entziehen. Die Angaben über seinen Verbleib zur Tatzeit sind widersprüchlich.

Katrin Fräse war nach einer Entziehungskur clean und eigentlich auf einem guten Weg. Sie besuchte bei der Firma Integra regelmäßig einen Integrationskurs. Aber offenbar gab es auch noch Kontakte zu ihrem ehemaligen Dealer. Zu guter Letzt haben die kinderlosen Inhaber der Firma Integra sich um die Kinder von Katrin während ihres Entzugs gekümmert. Auch jetzt sind zwei der drei Kinder wieder bei Ihnen. Die 14-jährige Judy ist verschwunden. Haben Sie ein Interesse Katrin Fräse loszuwerden?

Die Ermittlungen sind nicht leicht. Das Polizeiteam zieht nicht an einem Strang und die geballte Ablehnung der Plattenbewohner macht die Arbeit nicht leichte.

 

Das „Hör“-Spiel

 

Das Beste an diesem Hörspiel ist das Hörvergnügen. Da wird geschimpft, gebrüllt und geweint. Der Hörer schmunzelt über den feinen, lakonischen Humor und witzige Wortspiele, über tolle Dialektszenen. Alles kurz und knapp inszeniert, keine Minute langweilig. Kläffende „Köder“, schreiende Baby, quietschende Papierpressesind Beispiele für die vielseitige Geräuschkulisse.

Manche Szene wird von psychedelischen Tönen begleitet oder beglückender Ukulele-Musik. Diese Musik ist das pure Gegenstück zu der Welt der Plattenbewohner, die aus ihrem Elend kaum herauskommen, weil die Welt voller Vorurteile ist und ihre kleinen Schritte immer wieder zerstört. Der Autor steht ganz klar auf der Seite dieser Benachteiligten, die mehr sind als nur Ramsch.

Die Story wird chronologisch sauber, gelegentlich aus der Perspektive von Tommy erzählt. Es gibt viele hörenswerte Spielorte, die Sound und Geräusche wunderbar be“ton“en (Entbindungsstation, Recycling-Hof oder ein abgefackeltes Auto). Der Hörer braucht ein wenig, um die vielen Sprecher eindeutig zuzuordnen, aber es lohnt sich. Eine der schönsten Szenen ist die Befragung des Recycling-Mitarbeiters zum Leichenfund. Die schwer sächselnde Antwort versteht Nancy Ritter erst beim Nachfragen. Oder der Dealer mit seinem Kanaken-Slang, der sich als gebürtiger Sachse aus der Platte entpuppt.

Trotz unüberhörbarer Sozialkritik bleibt das Hörspiel bis zum Schluss spannend. Ein unerwarteter Shut-Down führt zu einem dramatischen Ende.

Nancy Ritter ist der ruhende Pol der Ermittlungen, ihr Kollege Marchlewski ein wenig glaubwürdiger Abklatsch aus amerikanischen hard-boiled Krimis. Insgesamt haben die Figuren wenig persönlichen Charakter, sondern sind eher Abbild eines Typus. Die Zwischentöne und menschliche Vielfalt fehlen weitgehend und nehmen dem Hörspiel viel von seinem Anliegen. Irgendwann mag man dem Gefluche der Plattenbewohner nicht mehr zuhören, weil schon klar ist, was nun kommt.

 

Fazit

 

Ohne Frage ein spannender Hörgenuss, der viele schwache Tatort-Folgen wettmacht. Genial inszeniert und sprachlich attraktiv. Etwas weniger Plattheiten, sondern mehr Tiefe werden den nächsten Folgen guttun.

 

 

Wertung  80%

 

Dauer 54 min

 

 

Verfügbarkeit

 

In der ARD Mediathek oder direkt beim MDR

 

Sonstiges

 

Interview mit dem Autor

 

Recycling-Hof Hörprobe

 


 

Facebook-Trailer

 

 

 

 

 

 

Bomber – Ein Radio Tatort mit Fehlzündung

© ARD / Jürgen Frey   Nun (Feb. 2024) ist der zweite Fall des NDR mit dem Verdener Extremismus-Team erschienen. Da die ers...