Montag, 2. Januar 2023

Blut – Ein true-crime-Hörspiel mit mehr Wut als Blut

 

Die Autorin ©Senzefrau/Wikipedia

Im November 22 bringt der Bayerische Rundfunk ein Original-Hörspiel von Dana von Suffrin zu Gehör. Der BR setzt damit eine mutige Tradition fort, historische Themen und Stoffe in neuer Form aufzugreifen. Es ist das zweite Hörspiel der literarisch jungen Autorin, die tief in der jüdischen Kultur verwurzelt ist. Es ist wohl eher Zufall, dass der historische Kriminalfall auf den sich dieser Stoff bezieht, bereits 2008 von dem renommierten Literaten Rolf Schneider in einem Hörspiel (Die Affaire Ernst Winter) verarbeitet wurde.

 

Inhalt

 

Im Winter 1900 werden in der kleinen westpreußischen Stadt Konitz Reste des grausam zerstückelten jungen Gymnasiasten Ernst Winter aufgefunden. Ein hinzugezogener Laienpathologe befindet, dass eine solch saubere Zerlegung nur von einem gelernten Metzger durchgeführt werden kann. Im Dorf gibt es den erfolgreichen, dennoch ungeliebten Metzger Hofmann und den jüdischen Metzger und Viehhändler Lewy. Beide werden von der örtlichen Polizei verdächtigt, diese finden aber keine eindeutigen Tathinweise und fordern Hilfe an.  Der zugereiste Kommissar erlebt einen Ort voller Wut und Hass gegen Juden, voller Schauermärchen, Lügen und Gespinste. Ein Lumpensammler soll mit dem toten Kopf des Jungen durch den Ort gezogen sein. Hat der Sohn des Metzgers einen Konkurrenten beseitigt? Die bisherigen schlampigen Ermittlungen machen es unmöglich, den tatsächlichen Tatverlauf trotz vieler Zeugenaussagen festzustellen. Im Ort eskaliert die Situation. Viele Stadtbürger gehen gegen die Juden auf die Straße, verteidigen massiv den „deutschen“ rechtsradikalen Metzger. Entnervt zieht sich der Kommissar nach einigen Tagen ohne Ergebnis zurück.

 

Das Hörspiel

 

Das Hörspiel ist in gewisser Hinsicht ein historischer True-Crime mit einem grausamen Mord im Mittelpunkt des Geschehens. Es ist kein Spoiler zu erfahren, dass bis heute ungeklärt ist, wer den jungen Mann getötet hat. Die Spannung wird nicht durch die Suche nach dem Täter erzeugt, sondern durch die zunehmende Eskalation der Situation. Das Hörspiel schildert eher grob die Ermittlungen, aber das Verhalten der Menschen und Behörden, das später zum größten Polizeieinsatz im Kaiserreich führen wird, um Juden zu schützen. Die Autorin hat die reale Geschichte ausführlich studiert und sie literarisch verarbeitet.

Erzählt wird das Drama von einem neutralen Erzähler. Getragen von der Vielzahl dialogischer Charakterstudien: die jüdische Familie Lewy, die deutschnationale Familie Hofmann, die Dienstmädchen, die vielen Verhöre des Kommissars mit wirren Menschen. In diesen Verhören kommen Menschen wie die Dienstmädchen, die nicht lesen und schreiben können zu Wort. Eingeblendete Radionachrichten (die es zu der Zeit in Konitz noch nicht geben konnte) und vorgelesene Zeitungsausschnitte von Dienstmädchen vermitteln den Eindruck von Authentizität. Demgegenüber stehen die vielen Kleinstadtbewohner mit ihren Eigenheiten und Marotten, die ein hörenswertes Typen-Panoptikum bilden, aber zunehmend Angst und Schrecken verbreiten, der sich in Hass gegenüber dem „Judenmördern“ steigert. Da gibt es Gerüchte, die zu Lügen werden, Verbreitung von Schauermärchen und gezielte Tätlichkeiten gegen die Juden. Mal bremst die Musik das Tempo, mal beschleunigt sie, mal ist sie melodiös, mal wenig harmonisch, elektronisch. Lediglich der zugereiste Kommissar bewahrt die Ruhe und ermittelt sachkundig. Am Ende muss er dem Mob nachgeben und reist ab.

Alle Rollen sind bestens und glaubwürdig besetzt, niemand drängt in den Vordergrund. Deutlich sind die verschiedenen Schichten zu unterscheiden, vorsichtig werden Dialekte eingesetzt.

Das Hörspiel ist furchterregend, weil der Hörer spürt, genau so können sich heute jederzeit solche Szenen wiederholen. Distanz, Ablehnung zuletzt Hass und Gewalt. Akten verschwinden, Verschwörungstheorien, Schauermärchen. Niemand verteidigt die Schwachen und der Staat muss oft genug seine Hilflosigkeit eingestehen. Auch die so scheinbar neutralen Medien tragen ihren Teil zur Eskalation bei, indem sie den Lügner öffentlichen Raum geben. Es ist die Kunst dieser Inszenierung, dass der historische Stoff unmittelbar unter unsere Haut dringt. Der Ton ist nie anklagend, eher sachlich, gelegentlich witzig, wenig Dialekt.

 

Die Affäre Ernst Winter von Rolf Schneider

 

Das ältere Hörspiel ist ruhiger und schlichter. Die Geschichte wird aus der Perspektive des örtlichen Kommissars (z.T. in Ich-Form) erzählt. Der mitfühlende Text des Literaten wird von dem bereits verstorbenen Vadim Glowna einprägsam gesprochen. Auch dort gibt es viele hörenswerte Dialoge und die Rolle der Medien und der Politik wird thematisiert. Einen besonderen Reiz macht es aus, dass die Regie deutlich pommersche und jiddische Töne erklingen lässt. Das Hörspiel ist über Youtube verfügbar.

 

Fazit

Ein klamm heimlich politisch-historischer Kriminalfall, der den Hörer bestens unterhält, gelegentlich unter die Haut geht und die meisten Hörer wohl noch ein paar Tage beschäftigen wird.

 

Wertung 90%

 

Dauer 50 Min.

 

 

Verfügbarkeit

 

ARD Audiothek

 

Sonstiges

 

Weitere Einzelheiten zum Hörspiel vom BR

 

Ein Interview mit der Autorin

 

Wikipedia zur Konitzer Mordaffäre mit weiteren Verweisen 

 

Homepage des Komponisten Cornelius Borgolte

 

 

 

 

 

 

 

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