Dienstag, 31. Dezember 2024

Der Abgrund – Frauen in Gefahr

 

Buchcover


Das zweiteilige Hörspiel des NDR (Herbst 2024) ist die Bearbeitung eines Thrillers der jungen britischen Autorin Lucy Goacher. Ungewöhnlicherweise wurden die Buchrechte dieses Erstlings zuerst nach Deutschland verkauft, wo es im Juli 2023 erschien. Die Rechte an der englischen Originalversion erwarb (letztlich) Amazon. In England erklomm das Buch die Hitlisten des Kindle und anderer Online-Versionen. Auf ihrer Homepage verweist die Autorin auf ihre eigene Sozialphobie, die auch Einhalt in ihr Buch gefunden hat.



Inhalt


Die Wissenschaftlerin Clementine Harris (Clemmy) lebt erst seit kurzem wieder in London. Seit hat ihre Forschungsarbeit in Boston unterbrochen, weil ihre Schwester Poppy sich das Leben genommen hat. Poppy hat sich von einer Klippe gestürzt und kurz vor ihrem Tod noch versucht, Clemmy anzurufen. Clemmy kämpft mit Selbstvorwürfen und aber auch mit Zweifeln an dem Selbstmord. Sie zieht als Untermieterin bei Liam ein, nimmt einen Job an einer helpline für Suizid-Gefährdete an. Sie gräbt in Poppys Unterlagen, befragt ihre Mitbewohner und Freunde. Ihre Zweifel wachsen. Poppy war nicht einfach, aber kein Selbstmord-Typ. Sie rettet einen Anrufer der helpline vor dem Selbstmord. Daniel nimmt Kontakt zu ihr auf und bedankt sich. Daniels Schwester soll sich vor einen Zug geworfen haben. Doch Daniel hat Beweise, dass es nicht stimmt. Aber stimmt alles mit Daniel? Überhaupt die Männer. Gab es einen Mann in Poppy Leben? In Briefen taucht ein Ben auf. Wieso drängt sich ihr Kollege Cliff so sehr in ihr Privatleben? Und der Nachbar Patrick ist nett, aber auch seltsam. Der schwule, jederzeit hilfsbereite Liam hat auch manches zu verbergen. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Spuren, die Daniel und Clemmy aufdecken, deuten mehr und mehr auf einen Serienmörder hin. Wurde Poppy von der Klippe gestürzt? Ist sie nur ein Opfer in einer Serie eines Frauenmörders? Ist Clemmy die Nächste?



Das Hörspiel

 

Die Dramaturgie ist ungewöhnlich. In einem der ersten Sätze erfährt der Hörer, daß Poppy ermordet wurde.  Das Hörspiel bezieht die Spannung aus der Frage: Wer war es? Und warum? Dazu bedient sich die Autorin vieler Zeitsprünge vor und zurück. Clemmy sucht als Ermittlerin in der Außenwelt, versteht sie aber, nur wenn sie auch in die Innenwelt eindringt, auch ihre Eigene und Poppys und anderer. Der Hörer sollte sich auf die Befindlichkeit und die Gefährdetheit dieser jungen Frauen einlassen und dem Spannungsbogen folgen.  Es gibt viele Dialoge, etwas zuviel innere und äußere Monologe von Poppy und Clemmy, gelegentlich eine Sprecherin. Keine Spielfilmszenen, sondern alles eher ganz normale Alltagsszenen. Wenig Musik, gelegentlich esoterisch wabernd. Insgesamt eher schlicht inszeniert, auf den Text verlassend. Der erste Teil führt Clemmy auf den Weg eigener „Ermittlungen“. Im zweiten Teil ist sie selbst im Mittelpunkt. Die Triggerwarnung vorab ist nicht schön, aber sinnvoll. Es geht um Suizid, um Frauenhass und Femizid. Wie bei vielen britischen Autoren so drastisch und wie selbstverständlich, dass einem das Blut in den Adern gefriert. Die Bearbeitung hat die Vorlage sprachlich erheblich verändert und gekürzt. Die hochprofessionellen Sprecher machen dem Hörer das Leben schwer: Ihre Figuren sind sympathisch, aber jeder könnte der Mörder sein. Als Buch würde man von einem Pageturner sprechen. Zuviele eigentliche interessante Nebenthemen grenzen das Hörvergnügen ein: Lesbische Lieben, greise Eltern, Selbstfindung, riskante Internettools, Polizeiignoranz. 

 

Fazit


Trotz kleiner Schwächen und Längen ausgesprochen hörenswert. Aktuell, lehrreich und bestens besetzt. Etwas düster und nichts für schwache Nerven.




Wertung 85 %

 

Dauer 2 Episoden je ca. 50 Min. 

 

Verfügbarkeit

 

ARD-Audiothek 

 

Sonntag, 22. Dezember 2024

Rabenkinder – Schwarze Pädagogik als Krimi

 

Buchcover

 

Der NDR ist stets für Überraschungen gut und hat das 2022 als Erstlingskrimi erschienene Buch in 2 Teilen für das Hörspiel bearbeitet. Grit Poppe wurde 1964 in der DDR geboren und ist heute durch vielseitige schriftstellerische Arbeit und zeitkritische Studien bekannt. Zum 35. Jahrestag des Falls der Mauer hat der NDR ihr Buch als Hörspiel veröffentlicht.

 

 

Inhalt

 

Mitten in den Tagen der Öffnung der Mauer, lassen sich für drei Insassen des DDR-Jugendwerkhofes Torgau, ca. 50 km entfernt von Leipzig, nachts völlig unerwartet die Türen der Einzelzellen öffnen. Der Werkhof ist eine gefängnisähnliche Besserungsanstalt. Alle anderen Zöglinge sind schon seit einigen Tagen weg. Als Andreas vorsichtig seine Zelle verlässt, sieht er den Direktor baumelnd im Flur hängen. Und einen Mann mit Sturmmaske, der sofort wegrennt. Die, noch, DDR-Kripo ermittelt. Ist es Selbstmord? Ein gefüllter Kühlschrank und die gute Laune am Tag vor dem Tod sprechen dagegen. Mord? Beliebt konnte er nicht sein. Aber wer hätte ein Motiv? Jedenfalls nutzen die drei Jugendlichen, Andreas, Tanja und Maik die Gelegenheit und büchsen aus. Die junge DDR-Kommissarin Beate Vogt stellt Fragen, studiert die Lebensläufe des Personals, der Verwandtschaft und die Stimmung und erschrickt. Maik schickt eine Postkarte aus Spanien, Tanja geht zu ihren Eltern. Aber Andreas bleibt verschwunden. Beate fürchtet um sein Leben.

 

Das Hörspiel

 

Das Hörspiel erzählt mehrere Geschichten, ohne dass es zuviel wird. Die grauenhafte Realität eines Jugendwerkhofs, die Jugendszene der DDR zur Wendezeit und ein wenig die Realität der Kripo in dieser Periode. Dennoch ist es ein extrem spannender

Krimi. Die Autorin hat gut recherchiert und die Ereignisse sind vielleicht zugespitzt aber historisch belegt. Die Innen-und Außenwelt des Jugendwerkhofes werden detailliert geschildert. Der Hörer mag es kaum glauben. Allerdings gab es auch in West-Deutschland so etwas wie Schwarze Pädagogik. Aber es ist auch eine Geschichte über die Verlorenheit von Jugendlichen, die freigelassen werden und keine Orientierung haben. Wie die DDR. Diese Erzählung findet sich intensiv im 2.Teil des Hörspiels. Und es ist ein spannender Krimi. Begleitet von einer allwissenden Erzählerin mäandert die Story von einem Spielort zum Nächsten. Mal auf dem richtigen Pfad, mal auf einem Irrweg. Die mit Nina Gummich bestens besetzte Kommissarin hat eine ruhige Art mit schlichtem, nachfragendem Blick auf alles, was sie hört und gibt keine Ruhe. In ihrem Team erlebt sie den Umbruch, weil Kollegen verschwinden und ein neuer Wessi etwas vorlaut ist.  Man hört jede Minute, dass es sich gelohnt hat, auch die Jugendlichen mit Profis zu besetzen. Die Autorin wühlt tief in den Lebensgeschichten der Beschäftigten und Verwandten. Mit einem nüchternen Blick, der an die Brecht´sche Darstellung der Wirklichkeit erinnert. Der Hörer kann jederzeit gut folgen und eigene Überlegungen entwickeln. Die Texte sind kurz und prägnant, bestens beobachtet. Einer der schönsten Dialoge handelt von der vor kurzem erlaubten Reisefreiheit. Beate Vogt hat davon gar nichts mitbekommen. Sie hat keinen Fernseher. Die langwierigen polizeilichen Ermittlungen benötigen mehrere Monate. Am Ende kommt es aber doch völlig anders als erwartet. Sound und Musik (es gibt einen eigenen Song) sind elektronisch modern und fangen die Jugendwelt bestens ein. 

 

Fazit

 

Der NDR zeigt, dass der ÖRR immer noch in der Lage ist, erstklassige Hörspiele zu produzieren, die politisch sind, ohne zu belehren und spannend, ohne abwegige Einfälle.

 

Wertung 90 %

 

Dauer ca. 100 Min.

 

Verfügbarkeit

 

ARD-Audiothek

 

 

 

Sonntag, 15. Dezember 2024

Der Mann, der Hunde liebte – Ein historischer Kriminalfall

 

Buchcover


Der SWR hat ab 2007 die außerordentlich erfolgreichen Kriminalromane des kubanischen Autors Leonardo Padura (1955-) für das Hörspiel bearbeitet. Die Hauptfigur, Teniente Mario Conde bewegt sich im politisch und gesellschaftlich schwankenden Kuba zwischen Moral und Ermittlerehrgeiz. Die attraktiven Hörspiele (Havanna-Quartett) sind im Herbst 2024 erneut in der Audiothek veröffentlicht worden. Allerdings hat sich Padura auch in anderen Genres bewegt. „Der Mann, der Hunde liebte“ geht von einem politischen Mord aus, ist aber weit mehr als ein Krimi. Das Buch ist 2009 auf Spanisch und 2011 auf Deutsch erschienen und umfasst mehr als 700 zu lesende Seiten. Das Hörspiel des SWR wurde im Nov./Dez. 2024 ins Netz gestellt und zuerst auf den ARD Hörspieltagen der Öffentlichkeit präsentiert. 


Der Inhalt


Das Hörspiel umfasst den Zeitraum von etwa 1930 bis in die 1900-er Jahre und erzählt die Lebensgeschichte von drei Personen. Leo Trotzki, Kommunist, eng mit Lenin verbunden und damit einer der Gründerväter der russischen Revolution. Er war aber auch eines der prominentesten Opfer von Stalins Terror und Rache. Er musste aus der Sowjetunion fliehen und fand erst in Mexiko-Stadt ab 1937 dauerhaftes Asyl. Umgeben von einer Schar von Leibwächtern und in einem Bollwerk von Haus lebend. Aber er genoss das Leben. Züchtete Kaninchen, schrieb Bücher und war Teil der mexikanischen Künstlerbohéme. Er hatte eine Affäre mit Frida Kahlo. Dennoch wurde er 1940 von Ramón Mercader mit einem Eispickel ermordet. Mercader war ein strammer Kommunist, der im spanischen Bürgerkrieg in den 1930-er Jahren sozialisiert wurde und brav allen Befehlen gehorchte. Er konnte verhaftet werden und lebte nach seiner Freilassung noch bis 1978 in Havanna.  Dort lernt er zufällig den kubanischen Schriftsteller Ivan kennen, als dieser mit seinen geliebten Borsoi-Hunden sparzieren geht. Ivan beginnt, sich für das Leben dieses Menschen zu interessieren und schreibt ein Buch darüber

 

Das Hörspiel

 

Keine leichte Vorlage. Die Erzählzeit umfasst nicht ganz 100 Jahre und ist voller Zeitsprünge vor und zurück, weil es der Recherche des Ivan folgt. Die drei Teile sind daher nicht eigenständig. Zielgruppe sind eher literarisch und politisch Interessierte, weniger die Krimifans. Politische Vorbildung macht das Hören definitiv leichter. Eine gewisse Spannung entsteht dennoch, weil der Hörer häppchenweise erfährt, warum diese Menschen wie gehandelt haben. Die Geschichte wird von neutralen Erzählern, in inneren Monologen und vielen Dialogen ausgebreitet. Also aufgepasst, zumal die Hauptsprecher berühmt sind, aber erst nach etwas Reinhören besser unterschieden werden können. 

Attraktive Spielorte in der ganzen Welt, spezielle Milieus sind ein Hörvergnügen, immer untermalt mit stimmigen Geräuschen und abwechslungsreicher Musik. Lachen, Weinen, Saufen aber auch ein furchterregender Todesschrei Trotzkis. Padura ist ein Epiker, mit Längen. Kein Short-Story Erzähler. Gelegentlich erinnert das Hörspiel (und vermutlich das Buch) an eine Gruppendiskussion in der jeder das Gleiche wiederholt, nur noch nicht von ihm. Langatmige politische Diskussion sind auch nicht jedermanns Geschmack. Sprachlich neutral und in kurzen, klaren Sätzen wird dem Hörer Unfassbares und Banales präsentiert. Die ausführliche Beschreibung des Mordes hat etwas fast Zärtliches und macht damit das Grauen noch größer. Trotzki ist nicht nur ein großer Denker, sondern auch ein fremdgehender Kleinbürger. Mercader ist nicht nur Mörder, sondern auch ein ideologisch Irregeleiteter. Die Vorlage ist ein politischer Roman, der blinde Gefolgschaft bloßlegt und den Irrungen und Wirrungen von Menschen Verständnis entgegenbringt. Sie erzählt vor allem die Geschichte des Mörders. Trotzki soll angesichts des Todes gerufen haben: „Lasst ihn leben, er hat noch etwas zu erzählen“.

Das Hörspiel „lässt Wahrheit und Erinnerung, Tatsachen und Subjektivität verschmelzen (Eva Illouz), aber Emotionen lässt es nicht entstehen.


Fazit


Für politisch und literarisch Interessierte ist das hochprofessionell inszenierte Hörspiel mit der Top-Besetzung  an Sprechern ein lohnenswerter Marathon. Alle anderen können beruhigt einen Bogen um das Hörspiel machen.

 

Wertung 85 %

 

Dauer drei Episoden zu je ca. 55 Minuten

 

Verfügbarkeit

 

ARD-Audiothek 

 

 

 

Lädiert – Closed-Room Tatort in der Reha-Klinik


© ARD / Jürgen Frey

Im Nov. 2024 ist der 5. Krimi des Autors Dirk Laucke beim MDR erschienen. Der fiktive Ort Lörben spielt eine untergeordnete Rolle, der Hörer begleitet die Polizeimeisterin Nancy Ritter aber in die schwerste Krise ihres Lebens.

Inhalte


Nancy Ritter befindet sich in einer neurologischen Reha-Klinik. Sie wurde Opfer eines Sprengstoffanschlages von Neo-Nazis. Sie kann nicht mehr sprechen, nicht gehen und steckt in einer tiefen seelischen Krise. Wie viele ihre Mitpatienten ist sie auf einen Rollator angewiesen. Doch ihre berufliche Neugier existiert noch. Als ihre Mitpatientin Jenny Robitsch tot im Löschteich aufgefunden wird, werden ihre Lebensgeister wieder etwas munter. Robitsch soll dement gewesen sein, aber stürzt man sich in einen Löschteich. Nancy bittet ihren Bruder Tommy um Hilfe. Tommy findet eine Klinik mit Menschen in tiefen Lebenskrisen vor, am Rande einer unwürdigen Existenz. Betreut von überforderten Pflegekräften. Wie soll man da Wahrheit und bloßes Gerede unterscheiden? Und einige der Patienten haben auch eine gewalttätige Vergangenheit hinter sich. Als Nancy dann wirklich akut bedroht wird, sorgt Tommy für die Einschaltung der Polizei und des LKA. Bei den Ermittlungen taucht ein Handy-Video auf. Dort ist eine übermütige Szene im Schwimmbad zu sehen. Pfleger und Patienten sehen zu, wie eine Frau fast ertrinkt. Es kommt zum Streit. Aber die Gefahr, die dahinter steckt, kostet Nancy fast das Leben.

 

Das Hörspiel

 

Kein Lörben, sondern eine neurologische Reha-Klinik. Fast ein closed-room Krimi, weil nur Pflegekräfte oder Patienten als Täter in Frage kommen, alles spielt sich in wenigen Tagen ab. Nancy kann kaum sprechen, teilt dem Hörer aber in inneren Monologen mit, was ihr durch den Kopf geht. Die Hauptrollen spielen aber die Patienten und die Pflegekräfte. Der Hörer wird Zeuge der teils absurden, teils witzigen Dialoge der „Psychos“. Das hat auch etwas unangenehm Voyeuristisches. Die Regie lässt keine Gelegenheit aus, den kranken Menschen auch seltsame Stimmen zu geben. Den Dialogen der Pflegekräfte ist anzuhören, dass die stetige Überforderung kaum Raum für Empathie lässt. Die quengelige Hintergrundmusik bildet stimmig die düstere Atmosphäre ab. Regelmäßig erklingen Raben, die Boten des Todes und des Unheils. Wer nur schwarz und weiß kennt, ahnt schnell, in welche Richtung es geht. Der Krimi ist also unterhaltsam, aber nur mäßig spannend. Nancys Kollegen und das LKA spielen nur eine Nebenrolle, lösen aber den Fall. Tommy wird nun endlich zu einem helfenden Bruder mit eigener, sicherer Persönlichkeit. Der Hörer ist neugierig, wie es dann in einem Jahr mit dem MDR-Team weitergeht.


Fazit

 

Ein unterhaltsamer Krimi mit viel Hörvergnügen, aber mit einem Blick auf die Erkrankten, den mancher im Jahr 2024 als unpassend empfinden wird.

Wertung 75 %

 

Dauer ca. 53 Min. 

 

Verfügbarkeit

 

ARD-Audiothek 

 

 

Mallorca, Mord und Margerita – Ein kriminelle Loreley-Sage

Loreley Die preisgekrönte österreichische Autorin Magda Woitzuck ist keine Vielschreiberin, aber eine vielseitige Schreiberin. In der ARD Hö...