Sonntag, 28. Mai 2023

Vampir Haarmann – Ein literarischer True-Crime von Jan Decker

 

Friedrich Haarmann

Nichts ist seit den späten 1970-er Jahren erfolgreicher als unzählige True-Crime Podcasts. Mehr oder weniger kundige Erzähler kommentieren reale Kriminalfälle. Dabei ist dieses Genre auch auf gehobenem Niveau nicht neu. Schon Schiller schilderte 1786 im „Verbrecher aus verlorener Ehre“ einen realen Fall. Der WDR hat diese Erzählung 1979 in einem Hörspiel umgesetzt. Es gibt zahlreiche hervorragende Hörspiele, die auf realen Fällen beruhen. Dabei steht selten das Kriminalistische im Vordergrund, sondern eher die Frage, warum und wie solche Fälle entstehen konnten. Der Autor Jan Decker hat eine Neugier, sich mit Serientätern zu befassen. Er hat aber auch eine Reihe von brillanten, klassischen Kriminalhörspielen verfasst. Im Mai 2023 befasst sich Decker nun in einer Produktion des SWR/BR mit dem wohl berühmtesten Serienmörder Deutschlands: Haarmann.

Die älteren Leser kennen womöglich den schwarzen Humor des Liedes: Warte, warte nur ein Weilchen.

 

 

Inhalt

 

Fritz Haarmann wird im Frühjahr 1924 in Hannover verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, 27 junge Männer im Laufe der letzten Jahre brutal ermordet zu haben. Leichenteile in nahegelegenen Flüssen haben die Polizei auf die Spur dieses Serientäters gebracht. Das Hörspiel berichtet über den Gerichtsprozess gegen Haarmann. Der Philosoph und Sozialdemokrat Theodor Lessing war eine ganze Weile als Reporter Zeuge des Prozesses. Er hat als akribischer Beobachter Mängel bei der Polizeiarbeit und der Verhandlungsführung beobachtet. Er hat aber auch versucht zu verstehen, wie ein schlicht, aber durchaus sympathischer Mensch ein perfider Serienmörder wird. Wie war sein Elternhaus? Unter welchen sozialen Bedingungen hat Haarmann gelebt?

Lessing gerät bei der Beschäftigung mit diesen Themen aber auch in private Konflikte mit seiner Frau. Aber mehr noch. Er muss feststellen, dass seine Berichterstattung ihn selber gefährdet. Schon 1933 wird Lessing von Nazi-Schergen im Exil im tschechischen Marienbad ermordet.

 

Das Hörspiel

 

Das ist kein Krimi, auch kein True-Crime, wenngleich die Geschichte auf genauer Prozessbeobachtung beruht. Es ist aber ein WHY-Dune-It. Dem Autor geht es in erster Linie darum, zu erzählen, wie ein Mensch zum Serienmörder geworden ist. Und nutzt diese Erzählung zugleich, um über Politik, Psychologie, Rassismus, unfähige Polizei und Richter zu sprechen. Dies alles geschieht unaufdringlich, aber den Hörer bewegend.

Haupterzählerin ist Ada Lessing, die mit Skepsis wahrnimmt, wie ihr Mann, der Philosoph, sich in die Niederungen des Journalismus begibt und eigentlich auch den Herausforderungen nicht gewachsen ist. Aber in einer eher komplizierten Erzähl-und Zeitstruktur gibt es auch eine Sprecherin, die zeitliche Ordnung vermittelt und immer wieder Monologe der handelnden Personen. Haarmann erzählt ganz detailliert, wie er die Toten zerlegt und entsorgt hat. Nur einem so genialen Sprecher wie Jens Wawrczek kann es gelingen, dass dieses Grauen klingt wie eine alltägliche Szene. Und das haben ja die Nachbarn auch alle so empfunden und nichts gemerkt. Kann man sich an Grauen gewöhnen?

Lessing und Decker betreiben keine psychologischen Studien, aber sie erzählen, wie ein seelisch labiler Mensch im riesigen Rotlicht-und Armeleuteviertel Hannovers nach dem ersten Weltkrieg mit Polizeiunterstützung zum Serienmörder wurde. Haarmann war Polizeispitzel! Der Jude Lessing hoffte Unterstützung beim Hannoveraner Idol und späteren Reichspräsidenten Hindenburg zu erhalten. Statt Unterstützung gab es Bedrohung.

Die Zeitspanne des Hörspiels geht dann bis zur Ermordung Lessings 1993.

Viele eher kurze Szenen, sparsame Musik-und Geräuschkulisse, immer fokussiert auf die Menschen. Sprachlich hohe Kunst des Autors. Jedes Wort sitzt. Genial folgende Szene: Neben Haarmann gab es auch den Massenmörder Denke. Der Autor lässt Hitler auf die Frage, wer der größte Massenmörder seien, antworten: Ich Denke Haarmann.

 

Fazit

 

Ein hochspannendes, hochpolitisches Kriminalstück, das auf allen Ebenen bestens gelungen ist. Eine gewisse Hörersehnsucht nach einem Thema wie Grauen wird scheinbar bedient. Aber differenziert, einfühlsam und nachdenklich hinterfragt. Das alles auch noch mit politischen und historischen Themen unterhaltsam zu verknüpfen gelingt nur wenigen Hörspielen.

 

 

Wertung 95%

 

Dauer ca. 55 Min.

 

 

Verfügbarkeit

 

ARD Audiothek

 

Sonstiges

 

Das Buch von Theoder Lessing im Projekt Gutenberg zum Nachlesen 


Ausführliche Info zu Theodor Lessing


Ada Lessing mit weiteren Infos

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